Samstag, 26. April 2014

CD-Review: "Unendlich" von Schandmaul

Diese Schandmäuler: seit nunmehr sechzehn Jahren im Geschäft, dabei nur einen einzigen Besetzungswechsel und stetig wachsender Erfolg. 2011 erreichte das (miese) Album "Traumtänzer" schon einen sehr starken vierten Platz in den Charts, ihr neues Album "Unendlich" weiß das mit Platz 2 nun sogar noch zu toppen - und das nicht nur was den kommerziellen Ertrag betrifft, nein, endlich geht es auch musikalisch wieder aufwärts. Liegt es am Labelwechsel? Liegt es an der beflügelnden Erfahrung einer Feier zum 15-jährigen Bestehen vor 12000 begeisterten Zuschauern in Köln? Man weiß es nicht. Jedenfalls übertrifft die neue Scheibe ihre beiden durchwachsenen Vorgänger "Anderswelt" und den besagten "Traumtänzer" um Längen.

Dabei lässt der Opener "Trafalgar" - eine Übung in Belanglosigkeit - Schlimmes befürchten. Uninspiriert und seelenlos - solche Ausfälle gab es auf den beiden vorhergehenden CDs leider häufiger zu beklagen.
Aber schon der fröhlich-beschwingte "Tippelbruder" wetzt die Scharte wieder aus. Hier geben die Schandmäuler richtig Gas; ein Fingerzeig auf die Grundausrichtung des Albums. Es geht alles in allem wesentlich rockiger und zackiger zu als früher, was durchaus nichts Schlechtes ist. Wermutstropfen ist der gewöhnungsbedürftige Text, lyrische Höhenflüge durfte man allerdings noch nie von den Herren und Damen um Haupttexter und Sänger Thomas Lindner erwarten. Plattitüden, Pathos, Peinlichkeiten: alles dabei.
Beim "Kaspar" geht mir als Bayer natürlich das Herz auf: ähnlich rasant wie beim "Tippelbruder" erzählen die Münchner Hofnarren die fast 150 Jahre alte Geschichte vom Brandner Kaspar, der mit dem Tod Obstler trinkt und ihm beim Kartenspielen ein paar zusätzliche Lebensjahre abluchst. Die Sage passt mit ihrem schelmischen Charme perfekt zu den Schandmäulern.
Das folgende "In deinem Namen" beschäftigt sich mit Exorzismus und Selbstgeißelung: starker Tobak, düster umgesetzt. Thomas Lindner ist häufig die Zielscheibe von Kritik, die ich meist unberechtigt finde - der Mann mag kein Caruso sein, aber er hat eine ausdrucksstarke Stimme und ist mit Herzblut bei der Sache. Hier klingt er allerdings tatsächlich eher atemlos und angestrengt, zudem würde man sich ein wenig Variation in seinem Gesang wünschen.
Der Text der gutgemeinten Anti-Nazi-Nummer "Bunt und nicht braun" kommt leider arg bemüht und holprig daher, auch wenn es musikalisch nicht viel auszusetzen gibt. Gitarrist Martin "Ducky" Duckstein betätigt sich eher selten als Dichter, und wenn man sich seine Beiträge so ansieht, ist man geneigt, diese Tatsache zu begrüßen.
"Mit der Flut" ist eines dieser Matrosenlieder, für die Lindner eine Schwäche zu haben scheint. Zum Glück geht das diesmal ohne Freddy-Quinn-haften Schmalz von der Bühne, sondern reiht sich mit Witz und guter Laune nahtlos in den bisherigen Gesamteindruck ein.
Ruhige Töne schlägt erstmals "Baum des Lebens" an, das sich wieder mal mit der Siegfried-Sage beschäftigt. Der gute Drachentöter ist mittlerweile ein alter Bekannter im Repertoire der Schandmäuler. Mit Harfe und sanfter akustischer Begleitung ist das zwar nicht besonders aufregend, aber tut auch niemandem weh.
"Tangossa" ist mal wieder ein Instrumental: früher ein fester Bestandteil eines Schandmaul-Albums, in letzter Zeit leider eher zur Seltenheit geworden. Schön! Das sorgt für Nostalgie.
Und dann, tja, und dann kommt "Euch zum Geleit". Es ist... schlecht. Ein unterirdischer Schmachtfetzen mit grauenhaftem Text (von Ducky!), ein Krebsgeschwür im Gehirn des Hörers, kein Schandmaul, sondern ein Schandfleck. Im Forum der Band wird dieser schlimmste aller Ausrutscher in der an Ausrutschern nicht armen musikalischen Geschichte der Münchner gefeiert, als sei er das Beste seit der Erfindung des Rades - man muss nicht alles verstehen. Umso absurder, dass WETO - eine Deutschrock-Band mit allen männlichen Mitgliedern von Schandmaul - über das Thema Beerdigung schon ein wesentlich besseres Lied namens "In unserer Mitte" geschrieben haben.
"Saphira" ist ein richtig guter Song mit starkem, hymnischem Refrain über ein richtig schlechtes Buch, nämlich "Eragon". Dass der Text auch hier wieder einiges zu wünschen übrig lässt - geschenkt. Die Verfilmung hat übrigens das Kunststück zustande gebracht, noch schlechter als die Vorlage zu sein. Worte können dieses Machwerk nicht wirklich beschreiben, nur so viel: ich bin mir ziemlich sicher, dass Jeremy Irons manchmal schweißgebadet mit dem Schrei "Eragooon..." auf den Lippen aufwacht. Und bitterlich weint.
Das eher langweilige "Mittsommer" geht irritierend abrupt über in ein instrumentales Outro, das mit der Melodie des eigentlichen Stückes nicht wirklich viel gemein hat.
"Little Miss Midleton" hebt die Stimmung aber direkt wieder an: ein flottes, irisch angehauchtes Instrumental mit wuchtiger Unterstützung aus dem Hause E-Gitarre.
Das leidlich unterhaltsame Trinklied "Der Teufel hat den Schnaps gemacht" wartet aus irgendeinem unerfindlichen Grunde mit einer russischen und einer englischen Strophe auf, die aber immerhin von den prominenten Gästen Russkaja und Fiddler's Green intoniert werden.
Siehe da: das von Flötistin und Dudelsackspielerin Birgit Muggenthaler-Schmack getextete "Mein Bildnis" ist lyrisch tatsächlich, man kann es nicht anders sagen, stark. Auch musikalisch überzeugt dieser beste ruhige Moment der CD.
Das abschließende, sechseinhalb Minuten lange "Märchenmond" beschäftigt sich thematisch mit den Werken des Wolfgang Hohlbein, den man mögen kann oder nicht - auf mich trifft eher letzteres zu. Abgesehen von Lindners offenbar fragwürdigem Literaturgeschmack gibt es aber nichts zu mäkeln: der Song baut sich langsam auf und explodiert zum richtigen Zeitpunkt.

Alles in allem eine richtig gute, runde CD, die in ihren besten Momenten an vergangene Großtaten wie "Narrenkönig" oder "Wie Pech & Schwefel" heranreicht und einfach Spaß macht. Die paar Durchhänger, die Schwächen der Texte oder des Sängers, stören mich nicht sonderlich. Denn: in jeder Sekunde spürt man, dass hier versierte Musiker mit Leidenschaft und Begeisterung am Werke waren. Das sympathische Sextett, stets nah bei den Fans, stets um ein gutes Verhältnis bemüht, darf in dieser Verfassung gerne nochmal 15 Jahre drauflegen.
7 / 10 Punkten

Freitag, 7. Februar 2014

Quis custodiet ipsos custodes?

Es ist das Jahr 1985. Edward Blake, der Comedian, wird ermordet.
Einst war er Mitglied der Superhelden-Truppe "Watchmen", die in den 40ern und 60ern auftauchten und den USA dabei halfen, den Vietnamkrieg zu gewinnen. Sie besaßen keine besonderen Kräfte: nur den Willen, ihrem Land zu dienen. Jetzt, Jahre später, trudelt die Welt einem Atomkrieg zwischen Ost und West entgegen. Die kostümierten Wächter von damals sind alt geworden, ihre Nachfolger sind nach dem Keene-Akt 1977 verboten und geächtet, und die meisten haben sich entweder zurückgezogen oder arbeiten für die Regierung.
Rorschach, der als Einziger weiterhin im Untergrund das Verbrechen bekämpft, vermutet einen Plot zur systematischen Auslöschung der ehemaligen Watchmen hinter Blakes Tod, stößt damit aber bei seinen früheren Kameraden auf Ablehnung und Unglauben. Nur Daniel Dreiberg alias Nite Owl II zweifelt nach weiteren Vorfällen. Gemeinsam beginnen sie zu ermitteln und entdecken eine Verschwörung, die alles Dagewesene in den Schatten stellt.

Watchmen, geschrieben von Comic-Guru Alan Moore, gezeichnet von Dave Gibbons und koloriert von John Higgins, wird im Allgemeinen als das beste Comicbuch aller Zeiten angesehen und fand sogar seinen Platz in der Liste der Times als einer der 100 besten Romane seit 1923. 2009 erschien Zac Snyders erstklassige Verfilmung - aber selbst die kann der schieren Größe der Vorlage nicht das Wasser reichen.

Watchmen ist dunkel. Die Farben sind kalt und steril, die Helden gebrochen und korrupt, der Hintergrund des Kalten Krieges apokalyptisch und verzweifelt. Moore stellt Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Was ist nobler? Seinen Prinzipien bis zum bitteren Ende treu zu bleiben oder den Zeitpunkt zu erkennen, an dem man sich beugen muss? Was ist mutiger? Sein eigenes Leben zu geben oder in einer künstlichen Welt weiter zu existieren? Die handelnden Personen sind ebenso verloren wie der Leser in einer Umgebung, die sie wie Schachfiguren hin- und herschiebt, wie es ihr gefällt. Moores Version des Superhelden-Mythos ist eine pessimistische und nihilistische. Er schreibt über ein zerrissenes Amerika im Angesicht des drohenden Armageddons, in dem keiner mehr weiß, welche Rolle er im großen Ganzen spielt. Die Wächter stellen keine Ausnahme dar - die Aufbruchsstimmung ihrer Anfangszeit ist nach der Konfrontation mit der harten Realität der desillusionierten Resignation gewichen.

Keiner der Helden verdient diese Bezeichnung. Wer ist der tugendhafteste? Dreiberg, der ewig Zögernde und Unentschlossene? Sally Juspeczyk alias Silk Spectre II, die orientierungslos durch ihr Leben treibt? Jon Osterman alias Dr. Manhattan, der nach einem Reaktorunfall zu einer gottähnlichen Gestalt wurde und dabei jegliche Empathie und jedes Interesse an der Menschheit verlor? Adrian Veidt alias Ozymandias, dessen Ehrgeiz von nichts als seiner Arroganz und Eitelkeit getrieben ist? Edward Blake alias der Comedian, ein Vergewaltiger und Sadist? Oder Walter Joseph Kovacs alias Rorschach, ein Psychopath, der die Welt passend zu seiner Maskierung in Schwarz und Weiß aufteilt und kompromisslos gegen jeden vorgeht, der seinem strengen Moralkodex nicht entspricht?
Selbst der ehemalige Schurke Moloch The Mystic ist nichts mehr als ein krebskranker, gebrechlicher Mann.
Es gibt keine strahlenden Ritter in Moores New York City. Nur Menschen.

Tatsächlich ist es am ehesten Rorschach, der unserer klassischen Definition des Helden entspricht. Denn bei aller Brutalität, allem Wahnsinn, aller Skrupellosigkeit ist er doch ein Idealist, der überzeugt ist, das Richtige zu tun und niemals nachgibt. Es gibt keine Kompromisse für Rorschach - was er beginnt, bringt er zu Ende. Damit erscheint er uns inmitten all der hilflosen Marionetten als der Einzige mit Rückgrat, als aussichtsloser Kämpfer gegen den allgemeinen Zynismus. Es ist eine der größten Leistungen Moores, einen derart derangierten Charakter, einen Mörder, der nicht vor Folter zurückschreckt, als den sympathischsten und nachvollziehbarsten aller Protagonisten darzustellen.

Es ist ein Dilemma: ohne mehr von der Handlung zu erklären, kann man die Faszination, die die Watchmen ausüben, kaum verständlich machen - und wenn man näher auf die Geschichte eingeht, dann verliert das Buch einen seiner größten Reize. Moores Comic ist gespickt mit Anspielungen auf amerikanische Pop-Kultur, Politik und Geschichte - zumindest rudimentäre Kenntnisse davon wären also von Vorteil. Im Zusammenspiel mit der makellosen grafischen Umsetzung entsteht eine Atmosphäre, die ihresgleichen sucht.
Moore zieht seinen gnadenlosen Realismus bis zur letzten Seite durch. Und wenn man die dann schließt und einmal tief durchatmet, merkt man, dass ein bitterer Nachgeschmack bleibt. Denn es fühlt sich nicht richtig an. Aber es kann nicht anders sein.

Alles andere als die Höchstwertung für dieses Meisterwerk wäre eine Farce. Die Watchmen müssen sich weiß Gott nicht vor den großen Klassikern der Literatur verstecken - es gibt nichts, aber auch gar nichts, was ich kritisieren könnte oder wollte.
Es ist eine wohlverdiente Premiere auf diesem Blog: 10 / 10 Punkten!


My name is Ozymandias, king of kings:
Look on my works, ye Mighty, and despair!